Steyr Cycle Works von 1921

Ein schlichtes Gebrauchsrad aus der Nachkriegszeit

STEYR Cycle Works von 1921, gereinigter Fundzustand
STEYR Cycle Works von 1921, gereinigter Fundzustand

Das Fahrrad bekam ich von einem Sammler-kollegen aus der Steiermark. Von den vor- handenen Teilen her befand es sich wohl weitgehend im Auslieferungszustand. Rah- men, Tretgarnitur, Naben, Felgen, Lenker und vorderes Schutzblech stammen aus der Erbauungszeit kurz nach dem 1. Weltkrieg. Das hintere Schutzblech wurde später an- gebaut und zeigte sich auch mehrmals re- pariert. Beim Sattel bin ich mir nicht sicher, meine aber, dass er auch jüngeren Datums ist; er war allerdings nicht mehr zu gebrau- chen. Die auf dem Fundfoto montierten Gummiblockpedale könnten ebenfalls zur Originalausstattung gehören, sind aber auf den Fotos unten durch zeitge-rechte Flügelpedale ersetzt, bis ich sie technisch überholt habe. Die beim Kauf montierte Karbidlampe stammt aus DDR-Produktion.

 

Eigentlich wollte ich das Steyr wieder veräußern, weil ich zwischenzeitlich ein anderes fahrbares altes Fahrrad bekam. Mittlerweile habe ich es aber technisch grundlegend überholt und den Rahmen konserviert, so dass es durchaus fahrbar ist und für kleine Ausfahrten oder Treffen zur Verfügung steht.

STEYR Cycle Works von 1921, Lenkkopfschild, Fundzustand
STEYR Cycle Works von 1921, Lenkkopfschild, Fundzustand

Es handelt sich um ein recht seltenes Steyr mit dem Schild 'CYCLE WORKS', also evtl. ein Exportmodell, oder zumindest auch für den nicht-deutschsprachigen Raum vorge-sehen. Mir ist bisher kein zweites Rad mit diesem Steuerkopfschild bekannt, wobei ich zugegeben nicht der Kenner für Fahrräder aus Österreich bin.

 

Betrachtet man sich den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Rades, wird man folgendes erkennen: Die wirtschaftliche Situation kurz nach dem verheerenden 1. Weltkrieg war für die großen Waffenproduzenten der Kriegsverlierer desaströs. Waffen wurden nicht mehr benötigt und man musste die Produktion möglichst schnell auf Zivilgüter umstellen. Da Österreich politisch ausein- ander brach und einen großen Teil seiner ursprünglichen Fläche und Bevöl-kerung - dadurch sein inländisches Absatzgebiet - eingebüßte, zudem die Bevöl-kerung durch die Kriegslasten und die galoppierende Inflation wirtschaftlich ausgeblutet war, mussten nun auch Märkte außerhalb Österreichs für die ei- genen Produkte erschlossen werden. Möglicherweise kann man das Fahrrad und die Bezeichnung im Lenkkopfschild vor diesem Hintergrund betrachten. In englischer Sprache beschriftete Firmenschilder an Fahrrädern kenne ich aus dieser Zeit auch aus Deutschland. Robust, einfach und wahrscheinlich auch preiswert, entsprach das Steyr Cycle Works ganz dem Bedarf der einfachen Be- völkerungsschichten in der wirtschaftlichen Depression nach dem 1. Weltkrieg.

STEYR Cycle Works von 1921, Torpedo Hinterradnabe, Fundzustand
STEYR Cycle Works von 1921, Torpedo Hinterradnabe, Fundzustand

Datiert ist das Steyr durch die Rahmenum- mer, die sich in eine von engagierten Sam- mlern erstellte Abfolge einpasst, sowie durch die originale Hinterradnabe recht sicher auf das Jahr 1921.

Das Fahrrad wurde wohl sehr intensiv be- nutzt und 1941/42 technisch instand gesetzt. Einige ausgewechselte Verschleißteile in der Nabe tragen das Datum (19)41, u.a. der Bremsmantel. Danach wurde es weiter-verwendet, so dass auch diese Teile heute wieder Verschleiß zeigen. Ich habe manche verschlissenen Nabenelemente nun durch Teile aus den 1920er Jahren ersetzt (Ritzel, Kugeln, Mitnehmer, Walzen etc.).

Der Sattel (BAL) war, wie auf dem Fundfoto zu sehen, nicht mehr fahrbar und wurde durch einen anderen bequemen und robusten Regulierfedersattel der Brüder Assmann, Leibnitz (BAL) ersetzt. Ebenso die Schutzbleche: hier habe ich etwas ältere aus meinem Lager montiert, bis ich geeignete finde.

Der Rahmen zeigt sich stark patiniert und die Felgen wurden irgendwann über- strichen. Das habe ich nach einer Reinigung und Rostbehandlung so belassen und diesen Zustand nur konserviert.
Die 32-Loch-Vorderradnabe ist ebenso original wie die hintere. Auf Letzterer lief über Jahrzehnte ein sog. 'Nabenputzer' mit, der seine Spuren hinterließ bis ich ihn abgezwickt habe (s. Foto). Er hat in den vielen Jahren sauber den Nickel in der Mitte der mit 21 gemarkten Nabe 'abgeputzt'.

Speichenglocke, Katalogblatt von 1926*
Speichenglocke, Katalogblatt von 1926*

Ergänzt wurden eine 20er-Jahre Speichen-klingel, eine lederne Werkzeugtasche, ein kleiner Gepäckträger, eine neue 5/8“-Kette sowie (vorübergehend) robuste Flügel-pedale. Der Lenker besitzt das recht seltene Maß von 24 mm Durchmesser, daher konnte ich die etwas ramponierten Celluloidgriffe noch nicht ersetzen.

Um bei Ausfahrten den Ordnungshütern nicht sofort aufzufallen, wurde von mir eine Lichtanlage aus den mittleren 1920er Jahr- en sowie ein Domlinsenreflektor am hinter- en Schutzblech nachgerüstet. Lampe ('Philag') und Felgenläufer-Dynamo ('Clou') stammen von der Philipps AG in Frankfurt/M., nicht zu verwechseln mit Philips, dem niederländischen Konzern.
Man findet über diesen Hersteller sehr wenig, daher zitiere ich an dieser Stelle die interessanteste Info, die ich bis heute auftreiben konnte (entsprechende Passage fett herausgehoben):

Gründung 1877 als "Frankfurter Orchestrion- und Instrumental-Piano-Fabrik J.D. Philipps", AG seit 1911. Ab 1929 Piano- und Orgelwerke Philipps AG. Übernommen wurden 1923 die Frati & Co. AG in Berlin, 1925 die Pianofabrik Wilh. Arnold, Aschaffenburg und 1929 die Baldur Pianoforte-Fabrik AG in Frankfurt/Main. Im Werk II in Rödelheim wurden auch Fahrrad-Licht-Dynamos und Fahrradlampen sowie Motorrad-Beleuchtung hergestellt. 1944/45 wurde die Fabrik bei Luftangriffen völlig zerstört, 1948/49 konnte das alte Fabrikationsprogramm in vollem Umfang wieder aufgenommen werden. 1954 kam unter dem Einfluß des Wirtschaftsprüfers Ludwig Riegel eine ganz ungewöhnliche Verwandlung: Die AG wurde umbenannt in “Unterfränkische Treuhand-AG” und war fortan als Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig. 1974 in eine GmbH umgewandelt. Quelle

 

Das Steyr fährt sich dank seiner robusten Bauweise sehr gutmütig. Die Sitzposi- tion ist aufgrund der Rahmenhöhe von gut 60 cm auch für Hochgewachsene in Ordnung. Die Rücktrittbremse funktioniert gut, die vordere Stempelbremse - wie üblich für diese Baumuster – bedingt befriedigend, wenn man französische Fel- genbremsen gewöhnt ist. Die Übersetzung des großen Kettenblatts erscheint an- gemessen für die Ebene, wenn es steiler wird muss man eben absteigen oder stramme Wadeln haben.

 


*Abb. aus: Katalog Bernhard Wedler, Breslau 1926.