Ein Kinderfahrrad aus den 1920er Jahren

Das kleine Fahrrad wäre fast in den Altmetallcontainer gewandert. Der Vor- Vorbesitzer hatte wohl damit begonnen es zu restaurieren, über das Zerlegen ist er aber nicht weit hinausgekommen. Er gab es dann irgendwann bei einem Fahrradtausch 'obendrauf'. Beim Vorbesitzer lag es als Teilesammlung ebenfalls in einer dunklen Ecke, bis ich mich erbarmte und es gegen zwei Sätze Reifen eintauschte. Dann lag es bei mir annähernd zwei Jahre in der Werkstatt...

Zum Glück war das französische Rädchen ziemlich komplett, nur das hintere Schutzblech, Reifen und die komplette vordere Bremse fehlten. Der beiliegende Sattel passte vom Format her nicht. Hätten entscheidende Teile gefehlt, wäre das Projekt an der fast aussichtslosen Ersatzteilbeschaffung gescheitert, denn es sind so gut wie keine Teile mit denen von Erwachsenenrädern kompatibel.

1920er Kinderfahrrad, Größenvergleich mit einer 28"-Felge
1920er Kinderfahrrad, Größenvergleich mit einer 28"-Felge

Das Kinderrad besitzt die relativ seltene Größe von nur 35 cm Rahmenhöhe mit der ebenfalls nicht häufigen Reifengröße von 450A bzw. 37-390 nach ETRTO. Das sind ca. 18“. Ich habe mittlerweile zwei alte weiße Reifen von Dunlop bekommen, das dauerte aber seine Zeit. Auf einem Foto sieht man im Hintergrund eine normale 28“-Felge (622 nach ETRTO), um sich die Dimensionen dieses Kinderrades besser vorstellen zu können.

1920er Kinderfahrrad, aufwändige Bremsanlage
1920er Kinderfahrrad, aufwändige Bremsanlage

Das Faszinierende an diesem Kinderfahrrad ist die Tatsache, dass es nicht ein - wie nach dem 2. Weltkrieg üblich - in einfacher Mach- art hergestelltes Kinderfahrzeug ist, sondern die Miniaturausgabe eines damals gängigen Erwachsenenrades. Das beginnt bei den Rahmendetails mit der aufwändig herge-stellten Gabel; der Ausstattung (komplizierte und aufwändige Doppelbremsanlage, Ket- tenblatt mit breiter Kettenauflage, stabile Pedale, hochwertige Naben mit Freilauf etc.) und endet mit Details wie den kleinen, ursprünglich vernickelten(!) West- wood-Felgen (jantes chapeau de gendarme) mit aufgenieteten Hersteller-/ Größenschildern (hier: Terrus A).


Dass ein solches Kinderrad damals ein sehr großer Luxus gewesen sein musste, ist klar. Nur wenige wohlhabende Eltern konnten ihren Sprösslingen solch ein Fahrrad kaufen. Die Preise lagen auf dem Niveau eines einfachen Erwachsenen-Fahrrads, bei der damals modernen 'englischen' Ausstattung (Bremsen, Lenker) auch darüber.

Wie schon geschrieben, sind die meisten Teile nicht mit den gängigen Größen bei Erwachsenenrädern kompatibel, auch wenn es auf den ersten Blick so aus- sieht. Der Lenkerschaft beispielsweise besitzt ein Maß von 20 mm, die Sattel-stütze ebenfalls (verdickt sich am oberen Ende zur Aufnahme normaler Kloben). Naben, Freilauf, Befestigungsschellen usw.: alles en miniature.

 

1920er Kinderfahrrad, Reste der Farbfassungen 1-3
1920er Kinderfahrrad, Reste der Farbfassungen 1-3

Bei der Restaurierung habe ich bemerkt, dass das Rädchen im Laufe seines Daseins zwei Überarbeitungen gesehen hat. Urs- prünglich zeigte es sich schwarz emailliert, wie es zu damaliger Zeit Standard war. Als diese erste Fassung auf- bzw. abgearbeitet war, wurde es professionell neu lackiert und liniert(!), diesmal in einem Bordeauxrot mit weißen Linien. Zu dieser Zeit bekam das Rad auch ein neues vorderes Schutzblech, das eigentlich für eine Radgröße von 20“ ge- dacht ist und auf die kleinere Größe angepasst wurde. Hier findet sich folglich auch kein schwarzer Lack der ersten Fassung. Das hintere Blech fehlt.

Eine zweite Überarbeitung zeigt sich in einem heute schon fast wieder ver- gangenen, lackierten Strahlendekor in gelblich-grüner Farbgebung, der den Be- reich des Lenkkopfs sowie Teile des Ober- und Unterrohrs umfasste. Sämtliche Blankteile waren ursprünglich vernickelt.

Ich entschloss mich letztendlich gegen eine Wiederherstellung der ersten Fas- sung (schwarz) und habe den Ist-Zustand einfach konserviert. Nicht aus Faulheit, sondern weil man sehr schön die einzelnen Überarbeitungen ablesen kann und sich darin auch die Wertschätzung - und nicht zuletzt der reale Wert - eines solchen Kinderrades zu diesen Zeiten dokumentiert. Wer käme heutzutage auf die Idee, ein Kinderfahrrad neu lackieren und aufwändig linieren zu lassen? Hätte ich die späteren Farbfassungen entfernt, wäre ein großer, ja der größte Teil der sichtbaren Geschichte des kleinen Fahrrads verloren gegangen.

 

1920er Kinderfahrrad
1920er Kinderfahrrad

Das Rad besitzt zwei Löcher für die Niete eines Steuerkopfschilds im Lenkkopf, das Schild selbst fehlte aber. Wahrscheinlich wurde es schon nach der ersten Überarbei- tung nicht mehr angebracht. Das nun über- gangsweise montierte Schild passte zufällig vom Lochabstand. Den Hersteller des Rades konnte ich trotz Recherche in Katalogen und Suche nach Markierungen leider noch nicht ausfindig machen. Gefunden habe ich nur die Namen der Zulieferer (Lenker von Gloria, Kette von Lipton usw.). Viel- leicht hilft mir irgendwann der Zufall.

 

Sämtliche beweglichen Teile wurden überholt bzw. neu gelagert (Naben, Tret- lager, Pedale etc.). Die vordere Bremse musste ich rekonstruieren. Der An- schluss am Lenker war vorgegeben und die hintere Bremse als Muster vor- handen. Die vordere Bremse zieht recht gut, die hintere Bremse mit ihrer kom- plizierten Mimik funktioniert zwar nach unzähligen Einstellarbeiten im Milli-meterbereich ebenfalls, ist aber durch die versteinerten weißen Bremsgummis so gut wie wirkungslos. Überhaupt würde ich heutzutage kein Kind mehr mit so einem Rad fahren lassen, da durch das Oberrohr oder z.B. die in einer Spitze(!) auslaufenden Bremshebel meiner Meinung nach ein gewisses Verletzungsrisiko gegeben ist – und ich bin nicht der Übervorsichtige!

 

1920er Kinderfahrrad, Ledersattel von 'Garford'
1920er Kinderfahrrad, Ledersattel von 'Garford'

Nach einem zeitlich passenden Sattel habe ich über ein lang Jahr gesucht. Nun ist ein lederner Kindersattel der Marke 'Garford' montiert. Garford war eine amerikanische Marke, deren europäischer Importeur in Frankreich saß. Garford-Sättel finden sich bis in die 1930er Jahre in vielen französischen Katalogen mit Fahrradzubehör.

Die kleine vernickelte Klingel für Kinderfahr- räder bekam ich von einem Sammlerkolle- gen aus Österreich.

Kinderräder aus der Zeit vor 1930 sind allgemein sehr selten, bedingt durch die geringe Verbreitung aufgrund der hohen Preise sowie der meist etwas rüden Be- handlung durch deren Fahrer. Dass doch hin und wieder ein relativ unversehrtes und komplettes Exemplar auftaucht, ist nicht zuletzt der damals gebotenen hoh- en Qualität dieser Produkte geschuldet.

 

Dieses Exemplar datiere ich anhand der verbauten Teile vorerst vorsichtig in die 2. Hälfte der 1920er Jahre bzw. um 1930.