Peugeot 'Lion' Extra von 1898

Luxusrad der Belle Époque

Dieses Peugeot tauchte vor ca. zwei Jahren in Ebay-Frankreich auf und ich konnte es damals glücklicherweise ersteigern. Es handelt sich um ein Modell 'Lion Extra' aus dem Jahr 1898.

Belegschaft der Fahrradproduktion im Werk Beaulieu 1898
Belegschaft der Fahrradproduktion im Werk Beaulieu 1898

Insgesamt befand sich das Peugeot in einem für das Alter hervorragenden Zustand. Auf Originallack und Nickel zeigten sich zwar Spuren der Jahrzehnte, wie kleine Rost- stellen und Abplatzungen, durch eine ent- sprechende Behandlung und Konservierung konnte aber wieder ein sehr ansprechendes Äußeres hergestellt werden. Überhaupt musste das Fahrrad in den letzten einhun- dert Jahren trocken gelagert und während seiner aktiven Zeit relativ wenig gefahren worden sein. Die Technik präsentierte sich in einwandfreiem Zustand, alle Lager ließen sich durch eine Reinigung und Schmierung in einen Quasi-Neuzustand versetzen. Die typischen, flach profi-lierten französischen Wulstfelgen zeigten keinerlei Schlag und die kräftigen 2,5/2,0 mm starken Doppeldickendspeichen mit ihrer originalen Verlötung haben so gut wie keine Spannung eingebüßt.

Katalogblatt mit Modell 'Lion' Extra von 1898
Katalogblatt mit Modell 'Lion' Extra von 1898

Die Bestandsaufnahme zu Beginn der Re- staurierung offenbarte einen modernen Sat- tel (einen Norex aus den 1940er/50er Jahr- en), einen falschen Lenker (zwar ein Peu- geot-Lenker, allerdings deutlich älter als das Rad), einst ausgewechselte Streben des vorderen Schutzblechs sowie eine falsche Außenklemmung des Lenkers. Zudem war- en auf die originalen Wulstfelgen mit Ge- walt moderne französische Drahtreifen auf- gezogen worden. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass bei der Montage die für die Reifen viel zu großen Felgen nicht beschädigt wurden. Demontieren gelang nur durch ein vorsichtiges Zersägen der Reifen, die Drähte wurden mittels Bol- zenschneider gekappt.

Auf alte Wulstfelgen gewürgte Drahtbereifung kommt gerade bei französischen Fahrradveteranen nicht selten vor. Da Wulstfelgen bzw. -bereifung in Frankreich neben Drahtreifen nur bis in die frühen 00er Jahre des 20. Jh. überhaupt angeboten wurden, sind den meisten Franzosen Wulstreifen fremd. Daher bietet sie der dortige Veteranen-Markt auch kaum an, Nachbauten wie in den deutsch-sprachigen Ländern sind so gut wie unbekannt - und durch die Seltenheit der entsprechenden Felgen auch kaum gesucht.

Kopfbedeckung der französischen Gandarmerie
Kopfbedeckung der französischen Gandarmerie

Bei Peugeot, so auch diesem 'Lion Extra', waren Wulstreifen (pneus al talons) 1898 noch Serie. Das änderte sich bereits ein oder zwei Jahre später, als Wulstbereifung nur noch gegen einen Aufpreis angeboten wurde und die Drahtreifen auf Westwood-felgen, oder wie der Franzose sie nennt: 'jantes chapeau de gendarme' (übersetzt: Polizeihut-Felgen) Standard wurden. Die für Nicht-Franzosen etwas seltsam anmutende Umschreibung der Felgenform rührt daher, dass die offizielle Kopf- bedeckung der französischen Gendarmerie Napoleons I. und auch später im 19. Jh aus einem annähernd runden, breitkrempigen Hut bestand, dessen Krempe an zwei Seiten nach oben geklappt war. Dieser Form ähnelt eine Westwood- felge im Querschnitt.

1898 Peugeot 'Lion Extra', Lenkkopfsperre
1898 Peugeot 'Lion Extra', Lenkkopfsperre

Der erste Besitzer des 'Lion Extra' gönnte sich ein heute bei französischen Fahrrädern so gut wie nie anzutreffendes Ausstattungs-extra, nämlich eine Lenkersperre (franz.: verrou d'arrêt). Der Aufpreis dafür betrug lt. Katalog 5.- Francs. Daher ist es besonders ärgerlich, dass die dazu gehörende Außen-klemmung mit der zusätzlichen Rastlasche fehlt. Sie aufzutreiben ist durch ihre Selten- heit wahrscheinlich aussichtslos, daher hilft nur ein Nachbau in nächster Zeit. Auch die stabilen Schutzbleche waren aufpreispflichtig (Fr. 6.-).

1898 Peugeot 'Lion Extra', verkorkte Gabel, Fundzustand
1898 Peugeot 'Lion Extra', verkorkte Gabel, Fundzustand

Das Modell 'Lion Extra' wurde serienmäßig mit einer im Lenkkopf geführten Stempel-bremse (unter Sammlern etwas irreführend Innenbremse genannt) ausgeliefert. Die fehlt aber seltsamerweise an diesem Peugeot. Ich dachte zuerst, dass sie wahr- scheinlich mit dem originalen Lenker ent- fernt wurde. Bei Zerlegen bemerkte ich aber, dass die Gabel an der Unterseite ver- korkt ist und dieser Kork eigentlich nicht nachträglich montiert aussieht (s. Foto). Da zu dieser Zeit neben dem Rahmen auch die Gabel, der Lenker und nicht selten auch das Kettenblatt eine gleichlautende Nummer trugen (wahrscheinlich um falschen Garantieansprüchen an den Her- steller vorzubeugen), konnte die Gabel als zum Rahmen gehörig identifiziert werden. Deren gleichlautende Nummer befindet sich auf der Rückseite des Ga- belkopfes.

Ich kann mir diesen Umstand nur dadurch erklären, dass der erste Besitzer viel- leicht eine andere Bremse als die Innenbremse orderte. Ob diese Möglichkeit beim Modell 'Lion Extra' bestand, wird aus dem Katalog nicht deutlich. Hier wird nur eine abmontierbare Bremse gegen einen satten Aufpreis von Fr. 16.- aufgeführt (frein détachable à collier).

1898 Peugeot 'Lion Extra', Bremsbeläge, Fundzustand
1898 Peugeot 'Lion Extra', Bremsbeläge, Fundzustand

Damals kamen Fahrräder grundsätzlich mit starrer Nabe zum Kunden, das später selbst-verständliche (und günstige) Freilaufritzel war noch nicht erfunden und die anderen Möglichkeiten für einen Freilauf waren sehr teure Luxusausstattungen, wie z.B. das Sys- tem 'Juhel' von 1898, eine tretlagergesteu- erte Brems-/Freilauf-Kombination, die ein Fahrrad gleich um 25% verteuerte.

Auch dieses 'Lion Extra' wurde erst später auf einen Freilauf umgerüstet. Ebenfalls wur- de eine vordere Kabelzugbremse von Bow- den ('Le Touriste') montiert, die heute noch die originalen, mit 'Le Touriste' ge- kennzeichneten Beläge besitzt. Die Bremse stammt aus der Zeit um 1910.

Matthews & Willard, Anzeige um 1898
Matthews & Willard, Anzeige um 1898

Den Lenker habe ich aus meinem Fundus ergänzt. Er stammt von einem etwas jüng- eren Peugeot mit Innenklemmung (daher die Schraube), entspricht aber formal der einstmals angebotenen Lenkstange.

Als Sattel habe ich ein zu dieser Zeit brand- neues Modell gewählt, einen amerika-nischen Christy, der damals durch die Firma Brown in Paris vertrieben wurde. Eine zeit- gemäße Klingel, eine Rahmentasche von Peugeot und eine Petroleumlaterne (Matthews & Willard, Modell 1897) vervoll-ständigen das 'Lion Extra'.

 

Das Peugeot wäre aufgrund des hervorragenden originalen Zustands eigentlich uneingeschränkt fahrbar, wenn man die fast versteinerten alten Bremsbeläge austauschen würde, was ich aber nicht möchte. Für eine Proberunde ohne nennenswerte Bremswirkung habe ich neue weiße Wulstreifen montiert. Zum Glück passt die heute noch gängige Größe von 28 x 1 1/2, allein das ein kleines Wunder bei einem französischen Fahrrad dieses Alters.