Peugeot 'A Route' von 1906

Vor einem Fahrradgeschäft, 1907
Vor einem Fahrradgeschäft, 1907

Das 1906er Peugeot besitze ich nun schon ein paar Jahre. Es stammt von einem fran- zösischen Flohmarkt.

Die blanken Metalloberflächen waren da- mals völlig mit einer schwarzen, harten Krus- te bedeckt, die sich an vielen Stellen nur sehr mühsam und vorsichtig mechanisch entfernen ließ. Ich nehme an, dass es sich dabei um verharztes Fett oder Öl handelte, mit dem die unlackierten Teile absichtlich eingepinselt wurden, denn auf den lackierten Flächen fand sich diese Kruste nicht. Eventuell wurde es vor vielen Jahrzehnten vom damaligen Besitzer auf diese Weise behandelt, vielleicht be- vor es irgendwo eingelagert wurde.

Durch die Entfernung dieser Kruste wurde die darunterliegende Nickelschicht unbeabsichtigt wieder zum Glänzen gebracht. Das ließ sich nicht verhindern, sonst hätte ich nicht alle Rückstände entfernen können. Normalerweise versuche ich zu vermeiden, alte Blankteile auf Hochglanz zu bringen, um ihnen die schöne matte Nickelpatina nicht zu rauben. Dadurch dass die Vernickelung an diesem Rad aber so gut und auch flächig erhalten ist, kann ich damit leben.

Peugeot-Schriftzug an einem deutlich schlechter erhaltenen Rad von 1913
Peugeot-Schriftzug an einem deutlich schlechter erhaltenen Rad von 1913

Dass das Rad nicht allzu lang in Gebrauch stand, oder über längere Zeit mehr geputzt als gefahren wurde, war schnell klar, als ich sämtliche Lager öffnete um sie zu reinigen und neu zu fetten – innen alles wie neu. Auch das Kettenblatt und das Ritzel zeigen nur relativ geringen Verschleiß. Einzig die Schrift 'Peugeot' auf dem Rahmen ist ziem- lich abgerieben und nur mehr schwach erkennbar. Das hatte ich bei anderen an sich sehr gut erhaltenen Peugeots auch schon; wieder andere, die sich in einem deutlich schlechteren Gesamtzustand befin- den, besitzen einen fast unversehrten Schriftzug in der typischen gelbgoldenen Farbe.

Für mich ist das der typische 'Rentner-zustand': Oft sind mir schon Autos aufge-fallen, die glänzten wie ein Neufahrzeug, obwohl sie schon etliche Jahre auf dem Buckel haben mussten. Kein Rostpickelchen auf den verchromten Teilen, keine matten Stellen im Lack, alles wie am ersten Tag. Einzig an den Num- mernschildern war das Schwarz der Schrift fast verschwunden. Dieser 'glän-zende' Zustand ist die Folge einer in der Regel wöchentlichen peniblen Rei- nigung und Politur, die diese Fahrzeuge - inklusiv Nummernschildern natürlich - über sich ergehen lassen mussten. Das Schwarz des Nummernschildes an meinem Auto hingegen zeigt sich einwandfrei erhalten, der Rest dagegen... na ja.

Katalogblatt Peugeot 1906, Modell 'A Route'
Katalogblatt Peugeot 1906, Modell 'A Route'

Der Erstbesitzer des Rades wählte zwar das einfache Modell 'A Route', das preiswerteste in der Modellpalette von Peugeot, dafür gönnte er sich aber eine vollständig vernickelte Kette (mit 'Peugeot' gemarkt) und einen vernickelten Freilauf. Außerdem vernickelte Felgen mit schwarzem Mittel-strich (sog. jantes demi nicklés), die für das Modell A ebenfalls aufpreispflichtiges Zube- hör darstellten. Das größte damals erhält- liche Kettenblatt mit 30 Zähnen musste es auch sein. Ein echtes Poser-Rad, möchte man meinen. Man könnte daraus jetzt fast ein Psychogramm des Erstbesitzers erstellen...

Katalogblatt RPF 1909, Bremsen der Firma Bowden
Katalogblatt RPF 1909, Bremsen der Firma Bowden

Am Peugeot waren bei der Auffindung keine Bremsen montiert. Welche Bremsen das Rad ursprünglich besaß weiß ich na- türlich nicht. Sicher scheint nur, dass es kei- ne von Peugeot waren, denn die originale Schraube, die die Bohrung an der Gabel verschloss, ist noch vorhanden. Bremsen von Peugeot waren aber im Loch des Gabelkopfs verschraubt und die Abdeck-schraube würde demnach fehlen, wäre dort irgendwann etwas entfernt worden.

Peugeot bot das Modell A grundsätzlich ohne Bremsen an. Diese konnte man gegen Aufpreis ordern, oder man ließ sich von seinem Händler Modelle nach eigener Wahl montieren. Weit verbreitet waren damals Konstruktionen der Firma Bowden, die ich nun auch angebaut habe.

Ergänzt habe ich zudem eine Rahmentasche von Peugeot und eine gut er- haltene Luftpumpe von Manufrance sowie einen Laternenhalter; ersetzen muss- te ich die beim Kauf montierten modernen Reifen. Da habe ich mich für graue schwedische Trelleborg entschieden, weil sie den alten grauen Lion- oder Michelinreifen am nächsten kommen. Die Klingel stammt von Lucas und wurde, wie viele englische Teile, zu dieser Zeit offensichtlich gerne gekauft, sieht man sich die Zubehörkataloge an.

Den abgegriffenen, selbst geschnitzten Holzgriff, der sicher schon ewig den de- fekten Griff aus Büffelhorn ersetzt, habe ich belassen; er gehört einfach schon zu lange zum Rad.

Fahrradladen in Montelimar, 1907
Fahrradladen in Montelimar, 1907

Die Erhaltung dieses Peugeots ist wirklich außergewöhnlich gut, eine Wartung der La- ger und eine Konservierung des Lacks waren schon die größten zu verrichtenden Arbeiten. Größere Lackschäden zeigt das Rad nur - wie üblich bei Herrenrädern - am Oberrohr. An dieser Stelle greift man normalerweise beim Schieben oder Tragen den Rahmen, und der Handschweiß in Verbindung mit entstehenden Kratzern verursacht dort auf Dauer Rost. Die Erhaltung des Nickels ist dank meines polierenden und ein- fettenden Vor...vorgängers entsprechend hervorragend und vermittelt ein le- bendiges Bild davon, wie ein Fahrrad in der Belle Époque aussah. Man sieht es förmlich im Schaufenster des Händlers blinken.

Paris, Rue de Rivoli, 1907
Paris, Rue de Rivoli, 1907

Die Werkshallen in Valentigney verließ das Peugeot zum Ende des Jahres 1906. Der neue Besitzer erwarb es wahrscheinlich 1907, einem weltpolitisch gesehen ruhigen Jahr des noch jungen 20. Jahrhunderts.

Die Wirtschaft floriert und in Frankreich boomt die Automobilindustrie (gut 80.000 Fahrzeuge in 1907 gegenüber ca. 20.000 in Deutschland); die Brüder Lumière veröf-fentlichen die ersten Farbfotografien; Frau- en demonstrieren für ein allgemeines Stimmrecht; die Architektur schwelgt im voll erblühten Jugendstil; Gustav Klimt arbeitet an seinem 'Kuss', während Picasso in Frankreich schon den Samen des Kubismus pflanzt; Rudyard Kipling (ja, der mit dem Dschungelbuch) erhält als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur; auf dem Münchner Oktoberfest werden erstmals Bierzelte aufgestellt; einem durch-schnittlichen Winter folgt ein unbeständiger, kühler Sommer und ein warmer Herbst; deutsche Kolonialtruppen begehen in Südwestafrika Völkermord an den Hereros und Namas; in Deutschland gewinnt die SPD die Reichstagswahlen; die ersten fünf Plätze der Tour de France gehen an Fahrer des Peugeot-Wolber-Teams; der SC Freiburg wird deutscher Fußballmeister. Alles erscheint normal und man steuert unbeirrt auf die bis dato größte menschlich verursachte Katas-trophe des 20. Jahrhunderts zu...

 

Fahrbar ist das Peugeot heute nur bedingt, denn die hintere Felge weist einen leichten Schlag auf und die Speichen haben im Verlauf eines Jahrhunderts an Spannung verloren. Würde ich das korrigieren wollen, müsste ich dazu die originale Verlötung der filigranen Doppeldickendspeichen zerstören und wahr- scheinlich auch die Speichen selbst austauschen. Das sind mir aber die paar Kilometer, die ich damit im Jahr fahren würde, nicht wert - obwohl mir der 62 cm hohe Rahmen genau passen würde.